Kartoffeln lieben lernen

In meiner Kindheit in den 50er Jahren war ich bei einer Kartoffelernte auf dem Land in Großenwieden dabei. Wir Kinder sammelten fröhlich liegengebliebene Kartoffeln auf, und als es dämmerte, wurde ein Feuer angezündet. Eine gute Erinnerung an die Gemeinschaft und den Geruch der Erde und des Herbstfeuers blieb zurück.

Vielleicht war es auch diese Erinnerung, die mich veranlasste, im letzten Jahr ein Kartoffelexperiment zu starten. Da mein Garten recht klein und schattig ist, begann ich mit einem Quadratmeter, auf dem ich fünf Kartoffeln pflanzte. Der Boden wurde mit Hühnermist vom Nachbarn versorgt, und die Erdäpfel gediehen. In unserer Familien-App bat ich alle, an einer Wette teilzunehmen: Wie viele Kartoffeln wachsen auf diesem Quadratmeter? Die Zahlen bewegten sich zwischen 17 und 30 Stück, nur Uroma Ingrid ging von zwei Kilo aus. Und damit war sie eindeutig Gewinnerin der Wette: 55 große und mittelgroße Kartoffeln konnten im Herbst von meinen Enkelkindern geerntet werden!

Durch den Erfolg wurde ich in diesem Jahr mutiger und weitete mein Experiment aus. Zwei Quadratmeter wurden mit zehn Kartoffeln bepflanzt. Mich inspirierte auch die Aussage einer indianischen Weisen, Estcheemah, die Lehrerin von Hyemeyohsts Storm, die zu ihm sagte, als er zu ihr kam, um ein mächtiger Schamane zu werden: „Du musst eine Kartoffel wertschätzen und lernen, sie zu lieben. Kartoffeln halten uns lebendig.“ Das war nicht das, was Storm erwartet hatte. Doch er ließ sich darauf ein und wurde Jahre später ein bedeutender Schamane.

Und dann war der erste September da, der metereologische Herbstanfang, die Kartoffelernte in meinem Garten konnte beginnen, zumal die Pflanzen längst vor sich hinwelkten. Doch was für eine Enttäuschung – nur 13 mittelgroße und etliche Minikartoffeln von der Größe einer kleinen Murmel kamen zum Vorschein, soviel ich auch in der Erde wühlte. Der Regen hatte gefehlt! Und da ich gerade in der heißesten Zeit abwesend war, hatte ich auch nicht mit der Gießkanne nachhelfen können.

„Wer soll davon satt werden?“ hieß es in der Familien-App lakonisch, als ich die traurige Nachricht verbreitete. Inzwischen habe ich von einem Bauern erfahren, dass Kartoffeln nicht zwei Jahre nacheinander auf der gleichen Fläche angebaut werden dürfen. Vielleicht muss ich es nächstes Jahr mit Kürbissen versuchen, denn ein weiteres sonniges Plätzchen von 2 Quadratmetern für den Gemüseanbau gibt es in meinem Garten nicht.

Auf LEBEN konzentrieren

Auf einer schamanischen Reise fragte R., was wir tun können angesichts von Krieg und Vernichtung, denn große Hilflosigkeit macht sich breit. Die Antwort war einfach und höchst komplex zugleich: auf LEBEN konzentrieren.

Ich musste daran denken, welch außergewöhnliche und vielschichtige Bedeutung LEBEN für Hyemeyohsts Storm hat, einen indianischen Medizinmann. Seine Lehrerin Estcheemah machte ihn auf seinem langen Einweihungsweg mit LEBEN vertraut. Mit der Essenz von LEBEN möchte ich es ausdrücken, um die tiefe philosophische Weltsicht in ihren einfachen Worten für uns verständlicher zu machen.

Kartoffeln, sagte Estcheemah zum Beispiel, halten uns lebendig. „Du musst eine Kartoffel wertschätzen und lernen, sie zu lieben.“ Eine banale Weisheit? Aber wie schwer ist es, in jeder Situation, zu jeder Zeit diese Weisheit zu leben. Das, was uns am Leben hält, zu achten. Gleich, ob es eine Kartoffel, ein gutes Gespräch, der Regen nach der Dürre ist.

Ich versuche, meine Aufmerksamkeit auf LEBEN zu richten. Der Himmel über dem zarten Grün der Birke vor meinem Fenster. Mein Rücken, der sich streckt nach der Arbeit am Computer, das Gefühl von Zufriedenheit, diese paar Sätze geschrieben zu haben, auch wenn sie kaum andeutungsweise den reichhaltigen Erfahrungsschatz von LEBEN wiedergeben können.

In seinem Buch „Lightningbolt“ beschreibt Hyemeyohsts Storm die Lehren von Estcheemah und seinen langen Einweihungsweg.

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