Manfred, Begegnungen in Polen II

Manfred war einer der Menschen, den ich auf unserer Reise nach Polen in die Heimat meines Vaters, das frühere Ostpreußen, kennenlernte. Unsere Vermieter hatten uns zum montäglichen Singen im deutschen Verein in einer masurischen Kleinstadt mitgenommen. Im Dachgeschoss des Arbeitsamts – dort Aktivierungszentrum genannt – hat sich der Verein einen kleinen Büroraum und ein großes Versammlungszimmer einrichten können. Auch mit Geldern aus der Bundesrepublik.

Wir betraten einen recht dunklen Raum, braune Deckenbalken, lange Tische, gepolsterte Stühle. An den Wänden Girlanden und Luftballons, zahlreiche Fotos und Bücher, die Deutschlandfahne und die ostpreußische Flagge. Ein Geburtstag war zu feiern, und auf den weiß gedeckten Tischen standen Schnittchen mit Wurst, Fisch und Gurken, Äpfel und Kaffee bereit.

Manfred war mir schon beim Eintreten aufgefallen, weil er alle um Haupteslänge überragte. Im weißen Hemd und Krawatte, grauer Hose und Weste machte der schlanke, hochgewachsene Mann einen vornehmen Eindruck. Am imposantesten aber war sein Gesicht mit ausgeprägter Nase und einem energischen Kinn.

Im Laufe des Vormittags erfuhr ich, dass Manfred ein sogenanntes Wolfskind ist. Von seiner Familie nach einem Überfall am Kriegsende für tot gehalten, blieb er elternlos im damaligen Ostpreußen zurück und schloss sich einer der Kinderbanden an, die sich in den Wäldern lebend bettelnd und stehlend über Wasser hielten. Später fasste er Fuß und ergriff einen handwerklichen Beruf.

Diese Vergangenheit war dem lebhaften Mann nicht anzumerken. Oliver stimmte sein Akkordeon, und als wir begannen zu singen, war Manfred ganz in seinem Element. Von „An jenem Tag mein Freund“ bis zum „Masurenlied“ und polnischen Liedern. Mit großer Begeisterung und kräftiger Stimme riss er auch die müdesten Teilnehmerinnen mit, bis schließlich alle von seiner Lebensfreude angesteckt wurden.

P.S. Unser Eindruck war, dass wir es hier mit – durchweg älteren – Menschen zu tun hatten, die sich an ihrem wöchentlichen Beisammensein freuen. Gesprochen wurde vor allem polnisch, nicht alle waren der deutschen Sprache mächtig. Ob und wieweit das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Austausch politisch von rechter Seite ausgenutzt wird, kann ich nicht sagen.

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